In diesem Blog fahre ich zum Nymphäum eines riesigen Aquädukts, das von den Bergen aus die Stadt Karthago – sowie die dortigen Thermen – mit Wasser versorgte. Es war mit über 130 Kilometern eines der längsten Aquädukte, das die Römer in die Landschaft gebaut haben. Reste des riesigen Rohres und der Täler überbrückenden Anlagen sind immer noch vorhanden. Kurz vor Karthago liegen inmitten eines schmutzigen Feldes imposante Zisternen, in denen das Bergwasser aus den Quellen Zaghoauns mündete und weiterverteilt wurde. So vermutet man zumindest. Eine antike Zisternenanlage dieser Größenordnung (Fassungsvermögen: über 50 Millionen Liter) findet man jedenfalls nirgends sonst auf der Welt.
Keine Stadt, keine Zivilisation, kein Leben kann ohne Wasser existieren. In Zaghouan begnetet man diesem aquatischen Ursprung des Lebens sinnbildlich in einem meterdicken Rohr. Zaghouan liegt weniger als eine Stunde Sammeltaxifahrt von Tunis entfernt, in südlicher Richtung. Alles Leben entsprang hier einem riesigen Meter dickem Rohr, welches das Bergwasser je nach Fließgeschwindigkeit in ein bis zwei Tagen ins antike Karthago führte – nachdem die Römer die Stadt nach drei langen Kriegen erobert und kolonisiert hatten. Spuren des römischen Afrikas findet man zuhauf in Tunesien. Über der Bergquelle Zaghouans thront in einem riesigen Halbkreis ein Nymphäum, das den Ursprung des Lebens im Wasser zur göttlichen Weihe erhebt.
Flüsse gibt es in Tunisien und südlich davon im Prinzip nicht. Ich habe auf vielen Reisen nie welche gesehen. Nur ein paar brackig aussehende Miniseen. Um Flüsse, vielmehr Flüsschen zu finden, muss man noch weiter in den Norden Tunesiens fahren. Dort existieren sie laut Karten – und ein paar Bäche auch ich auch persönlich in Augenschein nehmen können. In diesem nordafrikanischen Landstrich kann man das Wort „Fluss“ jedenfalls guten Gewissens aus dem Wortschatz streichen. Was die geographische Besonderheit etwa des Nils im weit entfernten Ägypten unterstreicht. Ob in antiker Flüsse existierten, ist ungewiss.
Während heute alle Welt in Tunisien das tägliche Wasser literweise aus einem kleinen Plastikrohr (vulgo: Flasche) zu sich nimmt (es ist heiß und überlebensnotwendig!), bauten die Römer gleich ein ganzes riesiges Rohr zur Versorgung ihrer nordafrikanischen Kapitale. Zu Versorgung von Mensch, Vieh und Erde. In diesem flusslosen Land war ein täglicher Zustrom von Bergwasser zur Aufrechterhaltung des städtischen und ländlichen Lebens nicht weniger überlebensnotwendig als heute. Natürlich ebenfalls durch Rohre geführt.
In Zaghouan und am Nymphäum lande ich eher zufällig. Aber jeder in Tunesien kennt diesen Ort. Bekannte haben ihn mir empfohlen. Sie haben mir vom „Tempel der Wasser“ erzählt und davon, dass die Natur hier schön sei. Wenn man hier angekommen ist und auf dem Anfang des Aquädukts steht, versteht man jedenfalls besser, wie die antiken Metropolen funktioniert haben. Und wie Berg und Küstenzivilisation miteinander verbunden sind.
Zum Tempel der Wasser führt vom Städtchen Zaghouan sinnigerweise eine malerisch gewundene Allee. Sie heißt „Love Lane“ oder, auf französisch, „Boulevard d‘amour“. Man flaniert also die Straße der Liebe entlang, um zum Tempel der Wasser zu gelangen. Ein poetischer Geist muss sich das ausgedacht haben. An einem der Liebesbäume, die die Straße flankieren, sehe ich drei junge Mädchen, 13 bis 14 Jahre alt. Sie kritzeln etwas in den Baum und schauen sich verschämt um, als ich an ihnen vorbeilaufe. Alle Liebe schreit nach Ewigkeit. Und sei es, indem man Namen und Daten in die Baumrinde ritzt, um die Zeit festzuhalten. Oh Augenblick.
Direkt neben dem Baum mit dem Schild „Love Lane“ wachsen Kaktusfrüchte am Wegesrand. Man findet sie überall in Tunesien, gerne auch als Naturzaun ums Haus oder Gehöft gepflanzt. Stachlig und heckendicht gewähren sie keinen Zutritt. Ich bin unvorsichtig, weil ich eine der schönen gelbroten Früchte mitnehmen will. Das rächt sich natürlich. Kein Heidenröslein, aber eine Kaktusfrucht sticht mich mit winzigen Dornen. Ich habe große Mühe, sie wieder aus meiner linken Hand herauszuziehen.
Es ist eine Sisyphosarbeit, unmöglich, weil die Dornen zu winzig und zu widerspenstig sind und längst fest in der Haut sitzen. Noch Wochen später melden sie schmerzhaft ihre Anwesenheit. So muss sich Gulliver gefühlt haben als seine Haut von den Liliputanern mit Pfeilen zum Sieb gemacht wurde. Kaktusstacheln sind winzigscharfe Dolche oder Pfeilhaken – starr und wenig flexibel. Im Gegensatz etwa zu den Widerhaken von Klettpflanzen oder den Klettverschlüssen bei Jacken, Schuhen oder Kabeln, die eher samtig sind – weicher und viel elastischer.
Am „Boulevard d‘amour“ erinnert der Kaktus mit seinen Pfeilen und Widerhaken an die Süße Bitterkeit der Liebe. Manche behaupten auch, der Kaktus sei wie die Liebe. Er sei außen stachlig und hart – und innen weich und süß. Oder wie etwas, das man genießt, auch wenn es einen oft genug piescackt und beißt. Die Tunesier nennen ihn „Hendi“. Die vom Mutterstamm abgebrochene Kaktusfrucht habe ich nie gegessen. Sie lag noch ein paar Wochen unberührt auf meinen Wohnzimmertisch. Ich weiß also nicht, ob sie süß schmeckt. Süß ist auf jeden Fall eine andere Spezialität Zaghouans – neben den Wassern im Tempel der Wasser. Hier wird an jeder Ecke Kahak Warka hergestellt und verkauft. Kahak Warka ist ein süßes Gebäck aus Mandelcreme, zu dicken weißen Ringen geformt und meist gleich kiloweise verkauft. Die kleinste Verpackungseinheit sind 500 Gramm. Mir reicht die halbe Dosis völlig, auch wenn ess sehr lecker schmeckt.
Nach Hause gekehrt bin ich also dieses Mal mit einem halben Kilo Kahak Warka, einer einzelnen Kaktusfrucht und hundert Stacheln in der Hand.
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