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Im Königreich der Schnecken, oder: einmal Weltnaturerbe und zurück

Blick Richtung Algerien

Ich bin im Königreich der Schnecken. Weit oben, aber noch weit unter den Wolken, auf einem gut 1200 hohen Bergmassiv. Es ist oval und umfasst etwa ausgedehnte 80 Hektar. Von diesem Felsplateau hat man einen Götterblick von oben auf die algerische Grenze und das tunesische Hinterland. Ein Schwarm schwarzer Greifvögel schneidet lautlos 10 Meter entfernt durch die klare Luft. Ihre Nester liegen direkt an der Klippe, die senkrecht hunderte Meter abfällt. Alle aus unserer Reisegruppe haben eine „Willkommen-in-Algerien”-SMS erhalten.

Der Ausblick ist spektakulär. Steile Felsen, zerfurcht und löchrig, wildes geflügeltes Getier, hügelige Landschaften, algerische Bergketten. All das in rot, sand- und ockerfarben gemalt, dazwischen schmutzig kalkweiße Häuser mit zinnoberroten Dächern, umstanden von dunkelgrünen Baumflecken. Manche Hügel sind regelmäßig gewellt wie Sanddünen oder Reisterassen. Sie rastern den Blick und werfen ein ästhetisches Echo zurück.

Spränge man vom Gipfelmassiv herunter, würde man ohne Passkontrolle auf algerischem Territorium landen. Als illegaler Migrant. Und mausetot. So wie die Tausenden Schnecken, die das Felsplateau zu ihrem Hauptsitz erkoren haben, illegale Migranten sind. Auch sie sind tot; ihre leeren Behausungen hängen in Bodennähe an Gräsern im Wind. In endloser Wiederholung.

Die algerische Grenze ist in Wahrheit noch ein paar Kilometer entfernt. Und die Tausenden von Schnecken, die hier jeden Quadratmeter des Bodens bedecken, scheinen sowohl die Region und die Götterlage des Felsens zu lieben. Überall stößt man auf ihre kleinen weißen Gehäuse, die an Grasnarben oder dem dürren Boden kleben, aufgereiht an Gräsern im Wind hängen. Das Plateau, das sie zu ihrem windigen Hauptsitz erkoren haben, heißt „Table de Jugurtha“ – die kalkige Trutzburg ist Weltnaturerbe, und dies völlig zu Recht. Denn geologisch ist es spektakulär. Es hat die Wucht eines opaken Riesenraumschiffs, das seine Geheimnisse nicht preisgeben will.

Oben, auf dem Gipfel, erinnert die weite Kalktafel mit ihrer porösen Oberfläche an die löchrigen Knochen gigantischer Walfische. Troglodyten hausten hier einst in der Höhe. Der Gipfelblick auf die busigen Ebenen mit ihren Ockerfarben erinnert mich an Massada in Israel, das an der Grenze zu Jordanien. Massada war, wie das Table de Jugurtha, Schutzort und Fluchtfelsen. Heute nicht mehr für Menschen, aber für Weichtiere – die aus einem einzigen Fuß bestehen. Laut ihrem griechischen Namen sind Schnecken ‚Gastropodae‘, also ‚Bauchfüßer‘ – weil sie auf ihrem Bauch vorwärts rutschen, der zugleich ein einziger schleimiger Fuß ist. Ich finde ihre weißen Gehäuse in Scharen auch in Bella Rigia, den Resten einer antiken Stadt, pompeji-groß und mit einigen spektakulären Mosaiken und Gebäuden, ein paar Dutzend Kilometer entfernt, und ebenfalls im Nordwesten Tunesiens gelegen.

Jugurtha, der dem Schnecken-Plateau seinen Namen gab, war ein numidischer König, der den Römern im zweiten Jahrhundert einigen Ärger bereitete. Wir kennen ihn hauptsächlich, weil der Historiker Sallust ein Buch über ihn und seinen Krieg gegen die Römer in Nordafrika geschrieben hat. Auch war er nicht zimperlich in der Kriegsführung und ließ fleißig Köpfe und Münzen rollen. Er wollte weder an Toten noch an Geld sparen. An Geld vor allem dann nicht, wenn es darum ging, sich die Stimmen einflussreicher Römer zu kaufen, um seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er tat das selbst dann noch, als er wegen der Massaker und Scharmützel in Nordafrika zum Rapport nach Rom bestellt wurde. Dies ging ein paar Jahre gut. Als es den Kolonialherren in Rom zu bunt wurde, sendeten sie verschiedene militärische Abordnungen gegen ihn. Er versteckte sich vor ihnen auf dem hohen Felsplateau, wo bis heute künstlich angelegte Zisternen und die Höhlen in Gipfellage von Spuren menschlichen Lebens zeugen. Den Römern konnte er, nach einer sicherlich mühsamen Belagerung, durch Ritzen und Felsspalten Richtung Algerien entkommen. Seine Ortskenntnis ließ ihn den Römern ein Schnippchen schlagen.

Hier watet man weich auf frischem Tierdung

Heute riechen die troglodytischen Behausungen, die Jugurtha mit seinen Leuten bewohnte, kräftig nach Ziegen- und Schafsmist. Einer Gruppe Neugieriger, die im Gänsemarsch in eine Höhle hinabsteigt, rufe ich launig zu: „À jamais !“ (Auf Nimmerwiedersehen!) Sie lachen und verschwinden. Um ein paar Minuten später und aus einem anderen Höhlenloch wieder an die Oberfläche zu steigen. Während ein paar Schafe blöken und die Schnecken ungerührt den kalkigen Jahrtausenden trotzen, ging es für Jugurtha einst weniger gut aus: er wurde, ganz unzimperlich, im Kolosseum hingerichtet.

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